Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Frank Grelka

 

Inna Shtakser: The Making of Jewish Revolutionaries in the Pale of Settlement. Community and Identity during the Russian Revolution and its Immediate Aftermath, 190507. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2014, XVII, 205 S. ISBN: 978-1-137-43022-9.

Inna Shtakser lehrt am Cummins Center for Russian and East European Studies der Universität Tel Aviv und legt mit diesem Band eine überarbeitete Version ihrer Dissertation an der University of Texas (Austin) von 2007 (Structure of Feeling and Radical Identity among Working-Class Jewish Youth during the 1905 Revolution) vor. Auf den ersten Blick folgt Shtakser einem emotionsgeschichtlichen Ansatz, da sie methodisch in den Spuren des marxistischen Kulturtheoretikers Raymond Williams und dessen Anspruchs wandelt, statische historische Zusammenhänge durch eine Reaktivierung der Quellen menschlicher Erfahrungen und Gefühle wieder aufzubrechen. Als Referenzkörper für eine Geschichte der sozialen Bewegung bevorzugt Williams literarische Texte, in denen sich die unmittelbare menschliche Erfahrung widerspiegelte. Shtakser nutzt diesen Ansatz als Grundlage ihrer Untersuchung über die Identitätsbildung junger jüdischer Arbeiter im Ansiedlungsrayon während und nach der Revolution von 1905. Es liegt eine kulturwissenschaftliche Studie vor, die aus zwei Teilen und fünf Kapiteln besteht. Im ersten Teil des Buches wird das Erlebnis der Unruhen im russischen Kaiserreich als Wendepunkt in der Selbstperzeption jüdischer Arbeiter bei der Annahme einer neuen Identität als Revolutionäre gedeutet. Mit Verweis auf die Attraktivität des sozialistischen Angebots in Form von erhöhter Mobilität, freierer Sexualität und verstärkter politischer Bildung diagnostiziert die Verfasserin eine Bewusstseinsänderung jüdischer Jugendlicher als Folge der Säkularisierung, d.h. einer Abkehr von der alten Hierarchie in den westrussischen Heimatgemeinden und deren religiösen Wertvorstellungen. Das zweite Kapitel bietet ein Panorama von Selbstbeschreibungen im Hinblick auf die Radikalisierung der politischen Ansichten jüdischer Revolutionäre in einem urbanen Umfeld. Kapitel drei ist eine innovative Mikrostudie zu den Ereignissen von 1905 bis 1907 aus der Sicht jüdischer Jungrevolutionäre aus den Reihen des Bundes, russischer anarchistischer Gruppierungen und der Polnischen Sozialistischen Partei in ihrer Konfrontation mit Manifestationen antisemitischer Vorurteile bei nichtjüdischen Revolutionären. Auf Grundlage von Erinnerungen der Teilnehmer rekonstruiert die Verfasserin im vierten Kapitel die emotionale Wirkung der Revolution von 1905 auf den jüdischen Arbeiter. Im Zuge dieses Gemeinschaftserlebnisses habe die Arbeiterklasse eine „emotionale Gemeinschaft“ (S. 123) herausgebildet, deren Identität als praktizierende Revolutionäre auch bei den jüdischen Mitgliedern zu einer bewussten Abgrenzung von der jüdischen Intelligenzija führte. Schließlich untersucht das fünfte Kapitel im Zusammenhang mit antijüdischen Ausschreitungen die Rückkehr zum jüdischen Selbstverständnis und die Konfrontation des jugendlichen revolutionären Impetus mit den Systemkräften des Zarenreichs. Diese Erfahrung schildert die Verfasserin im Hinblick auf einen neuerlichen Identitätswechsel ihrer Protagonisten. Die Darstellung dieser Transformation liest sich interessant als ein widersprüchlicher Prozess, in dem sich verschiedene Emanzipationsstufen manifestierten und aufeinander aufbauten. Insofern erinnerten die Zeitzeugen die Rückkehr in die Elternhäuser zwar einerseits als eine vorübergehende Niederlage im Kampf für eine eigene jüdische politische Identität, so die Verfasserin. Andererseits sei es Ausdruck derselben emotionalen Identität als Revolutionäre gewesen, in jüdischen Selbstverteidigungseinheiten ihre Gemeinden gegen den Obrigkeitsstaat zu schützen. Im Zuge eines „emotional turn“, meint die Verfasserin am Beispiel der 1905er Revolution, seien emotionale Veränderungen auf lange Sicht geschichtsmächtiger als jene Faktoren, die in der politischen Geschichtsschreibung üblicherweise beschrieben würden. Im Hinblick auf die Modernisierung der Lebenswelt osteuropäischer Juden ist der von der Verfasserin konstatierte „identity change“ jüdischer Jugendlicher (S. 13) sicherlich relevant. Wie sich jedoch ein solcher Ansatz durch eine aktengestützte Analyse der Stadtflucht und einer sich im urbanen Umfeld entwickelnden jüdischen Öffentlichkeit überzeugend mit Leben füllen lässt, zeigt Scott Ury in seiner Arbeit zu Warschau (Banners and Barricades. Warsaw Jewry 1905). Neben zeitgenössischen Periodika besteht der knappe Referenzkörper der vorliegenden Arbeit aus zwei Quellenkorpora aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation. In einem Anhang (S. 153 ff.) begründet Shtakser wortreich, warum sie sich für eine Sammlung von 800 Privatbriefen jüdischer Aktivisten aus der Zeit der Revolution sowie 430 Autobiographien aus der Zeit des Stalinismus (von 19241935, als Anlagen für den Antrag auf Mitgliedschaft im Verein ehemaliger politischer Gefangener und Verbannter, der 1921 in Sowjetrussland u.a. zur Versorgung von Altrevolutionären gegründet worden war) als Grundlage ihrer Überlegungen entschied. Die Texte repräsentierten einen breiten sozialen Sektor, begegnet Shtakser offensiv möglichen Zweifeln an der Authentizität der aus diesen Texten sprechenden Emotionen. Einmal sei durch den Vergleich mit den zeitgenössischen Privatbriefen genügend Distanz zu den Revolutionsbiographien geschaffen. Aus Sicht der Geschichtspolitik der Bolschewiki seien die Biographien jüdischer Arbeiterrevolutionäre nicht nur kompatibel gewesen, sondern sie hätten einen wichtigen Bestandteil der Identität der bolschewistischen Partei ausgemacht, fügt die Verfasserin hinzu. Das ist zumindest in dreierlei Hinsicht problematisch: Einmal waren Veteranenerinnerungen an die Revolution von 1905 elementarer Bestandteil des offiziellen Narrativs der Geschichte der KPdSU, zum zweiten ist es ohne eine Beschreibung der Einzelschicksale und im Kontext der Gleichschaltung des sozialistischen Parteienspektrums in der Sowjetunion nach 1920 gewagt zu behaupten, jüdische Sozialrevolutionäre von 1905 hätten sich auf eine natürliche Weise als Vorläufer der Bolschewiki empfunden, um sich, drittens, auf Frederik Corney zu berufen, obwohl jener solche Egoquellen als Elemente der bolschewistischen Mythenerzählung über die Oktoberrevolution identifiziert. Ohne das Fallbeispiel einer zeitgenössischen Gruppen von handelnden Akteure bleibt vieles analytisch an der Oberfläche. So kann die Verfasserin dann auch nur in Ansätzen auf die Ausgangsfrage nach der Diskursteilhabe von Gefühlen und ihrem Beitrag zur Bildung dieser sozialen Gruppen antworten. Die Praktiken der „new Jews“ (S. 58) und ihrer Art, wie sie die Gesellschaft im Rayon veränderten, sind allein anhand von Memoiren kaum zu verifizieren. Vermutlich wäre im Zuge eines biographischen Ansatzes die von Shtakser konstatierte „emotionale Transformation“ (S. 3), die Dialektik der Modernisierung der jüdischen Arbeiterschaft ganz hervorragend zu belegen gewesen,besonders auch in Bezug auf den Führungsanspruch der Jungrevolutionäre nach der Rückkehr in ihre Gemeinden und auf ihren Konflikt mit den konservativen Eliten in den Gemeinden sowie auf der anderen Seite auch im Hinblick auf das Potential jüdischer Sozialrevolutionäre als Herausforderung für die exekutiven Organe des autokratischen Staat. Beispielsweise hat Stefan Wiese in einem Beitrag zu Žytomyr aus dem Jahr 2012 die Wirkungsmacht der jüdischen Selbstverteidigung gegen die Pogrome als Legende des Bundes entlarvt.

Inna Shtaksers Arbeit über die Revolution von 1905 aus der Perspektive einer Jugendbewegung am Rande der russischen Gesellschaft ist ein wichtiger Beitrag für die weitere Erforschung der Mobilisierung der jüdischen Gesellschaft am Ausgang des langen 19. Jahrhunderts.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Inna Shtakser: The Making of Jewish Revolutionaries in the Pale of Settlement. Community and Identity during the Russian Revolution and its Immediate Aftermath, 1905‒07. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2014, XVII, 205 S. ISBN: 978-1-137-43022-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Grelka_Shtakser_ Jewish_Revolutionaries.html (Datum des Seitenbesuchs)

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